Montag, 26. Dezember 2011

Als ich mal nach Frankfurt wollte

Schon morgens gegen zehn mache ich mich auf. Nur schnell noch ein paar Weihnachtskarten einwerfen und dann rüber nach Frankfurt. Noch ein paar Geschenke kaufen und dann meine beste Freundin im Café Hauptwache treffen, so wie jedes Jahr.

Es regnet einen sehr feinen Regen, der einem vortäuscht, man könnte gehen, ohne nass zu werden. Nicht mit mir. Schirm auf und die Luisenstraße runter in die Stadt. Die Luisenstraße ist am Bahnhof sehr schön und weiter unten sehr hässlich, birgt aber kulinarische Ziele, die den Weg lohnen. An der Nummer acht suche ich die Briefkästen. Erst in den Hof und ein Treppchen rauf. Es ist eines der schönsten umgebauten Industriegelände, in dem eine befreundete Agentur ihren Sitz hat. So würde ich auch gern einmal logieren. Man muss ja Träume haben. Aber Briefkästen hat's offenbar hier nicht. Wieder raus, auf die Straße. Als ich schon fast vorbei bin, entdecke ich doch noch einen Briefkasten. Hinein mit meinen Weihnachtsgrüßen und weiter. Ein Stückchen in die Geleitsstraße hinein. Dort sitzt mein Steuerberater. Auch hier muss ich in den Hinterhof. Aber, den Briefkasten kenne ich schon. Wieder zurück in die Luisenstraße. Ich komme nicht sehr weit, da lockt mich ein frischer, blumiger Duft. Unverkennbar Kappus, die Seifenfabrik. Links leuchtet der kleine Laden. Da war ich eigentlich noch nie drin. Das liegt daran, dass ich hier meist nur abends vorbeilaufe. Ein paar schöne Seifen...da wird mir bestimmt jemand einfallen, dem ich die schenken kann. Also hinein.

Drinnen duftet es nach allen Blüten des Sommers. Noch ein bisschen unschlüssig stehe ich vor Lavendel-Duschgel. Da entdecke ich wunderschöne Dosen, die über und über mit Rosen bedruckt sind. Ich öffne eine und wirklich - sie duften wie Rosenblüten. Da nehme ich gleich zwei und stelle mich an die Kasse. Bei einem anderen Kunden, der vor mir dran ist, beschwert sich die blonde Verkäuferin: Die mache mit mir hier, was se wolle. Einmal 'es Lehrmädsche, immer es Lehrmädsche...ich sach's ja. Ihre Bemerkung amüsiert mich, weil sie sehr nach Heimat klingt und weil das Lehrmädchen schon ziemlich in die Jahre gekommen ist. Gut gelaunt verstaue ich meine Rosendosen und verlasse den Seifenladen.

Weiter geht es, Richtung Frankfurter. Schon von weit leuchtet das gelbe Schild des Mekong. Mekong ist ein sehr gut sortierter Asia-Laden in Offenbach. Dort gehe ich immer rein, auch, wenn ich eigentlich gar nicht weiß, was ich will. Heraus komme ich immer mit einer ganzen Tüte voll. Es fasziniert mich, die ganzen fremden Dosen und Tütchen zu inspizieren. Irgendetwas völlig Unbekanntes wandert immer mit in meine Tüte. Heute sind es ein paar herzförmige grüne Blättchen, die ich neben dem Koriander entdeckt habe und ein Glas Mintsauce von Coleman. Von einer Bedienung aus dem White Elefant weiß ich, dass man sie mit Joghurt anmischt. Das wollte ich schon immer mal probieren.

Wieder zurück auf die Frankfurter. Dort beschließe ich bei Cuore frischen Kaffee zu kaufen. Das ist einfach lustiger, als bei Rewe an der Kasse zu stehen. Drinnen Gitarrenklänge, als hätte ich sie bestellt. Verschiedene Weihnachtslieder werden von zwei Männern am Fenster eingeübt. Sie reden hessisch und singen italienisch. Ich lasse mir von Franco den Kaffee malen. Er duftet wunderbar. Das führt dazu, dass ich nicht mehr so sehr weit komme. Genau bis zu Pedro nämlich. Das ist ein kleines Café auf der linken Seite stadteinwärts. Sehr liebevoll geführt. Es gibt tollen italienischen Caffè und Aida-Plätzchen aus Sizilien. Das ist ein köstliches Mandelgebäck. Fast wie überdimensionale Bethmännchen. So eins gönne ich mir heute, aus Pistazienmarzipan. Und eigentlich ist es Zeit für ein klitzekleines Mittagessen. Ein Tramezzino mit Parmaschinken und Pecorino. Das gönne ich mir auch. Schließlich ist Weihnachten. Ich sitze in dem wunderbar betörendem Kaffeeduft, bewundere die rotgoldene Weihnachtsdeko über der Theke und lasse mein Tramezzino auf der Zunge zergehen. Ein Himmel voller Kitsch. So muss es sein.



Weiter geht es nun in Richtung Herrnstraße. Hier muss ich auch ein paar Karten einwerfen. Zum letzten Mal in diesem Jahr betrete ich den schönen Mosaikfußboden im Bernardbau. Immer einen Besuch wert. Die Briefkästen sind leicht zu finden. Wieder auf der Herrnstraße wende ich mich nach links zu Astrid Merger. Eigentlich will ich ihr in der kleinen Boutique nur meine Karte übergeben, aber im Grunde  könnte ich hier auch für meine Nichten eine Kleinigkeit kaufen. Ist doch netter als einen Gutschein von H&M. Aber, was nur? Astrid schlägt mir einen schönen Schal vor. Das wäre wirklich was. Mir fällt ein, dass die eine der Nichten so auf pink und lila steht und just in diesem Augenblick entdecke ich ein paar kleine Stulpen, pink mit lila Pelzbesatz. Die müssen es werden, denke ich. Wir brauchen eine Weile, bis wir dazu ein Halstuch finden. Dann dasselbe Spiel nochmal mit kleinen weißen Stulpen. Inzwischen ist Frau Mergers Schwester hinzugekommen und sucht auch mit. Als wir alles haben, kommt eine kleine ältere Dame herein, die von den Schwestern begrüßt wird. Offenbar eine Stammkundin. Sie grüßt uns sehr freundlich, aber fast übergangslos bricht sie in Tränen aus und erzählt uns, dass sie gerade einen Fahrradunfall hatte. Das Fahrrad ist hin, aber ihr ist wenigstens nichts passiert. Wir bringen ihr einen Stuhl, trösten sie und mein Aufenthalt verlängert sich um ein halbes Stündchen.

Eigentlich wollte ich noch nach Frankfurt, sage ich irgendwann. Was wollen Sie denn da? fragt die ältere Dame fast entrüstet. Tja, naja, ich habe mich mit einer Freundin an der Hauptwache verabredet. Ach so. Irgendwie scheint sie beruhigt. Ich nehme meine ganzen Päckchen und Tüten und sage: Und jetzt habe ich hier das ganze Zeug hier dabei. Die ältere Dame lächelt und sagt, ist doch gut, dann sehen die da drüben mal, dass wir hier auch was haben. Wir lachen und ich verabschiede mich.

Sonntag, 11. Dezember 2011

Auf den ersten Blick ganz harmlos - Caffè Cuore Offenbach

Als ich zum ersten Mal im Caffè Cuore war, befand es sich noch auf der Kaiserstraße. Mir waren die kleinen, hübschen Espressokännchen aufgefallen - und dann stand da noch: Eigene Röstung. Ein wenig schüchtern trat ich damals ein und befand mich gleich in Italien. Die Eigentümer waren selbst wohl erst vor kurzem in Deutschland angekommen. Ein junger Mann mit schwarzem Haar und beeindruckend blauen Augen jedenfalls sprach mit einem älteren italienisch. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte auf italienisch, wo sie herkämen. Aus Lecce, conosce Lecce? war die Antwort. Ja, ich war tatsächlich mal durchgefahren, durch die Stadt am Ende des Stiefelsporns.

Mein erster Einkauf war Espresso und ein neuer Dichtungsring für mein eigenes Kännchen, ein hübsches Ding von Bugatti, das ich einmal in Sorrent erworben hatte. Seitdem zog es mich immer wieder ins Cuore, um Espresso zu kaufen (der ein sehr schönes kräftiges Robusta-Aroma hat) und Alio-Olio-Gewürz, das eine unverzichtbare Zutat für jede meiner Nudelsaucen geworden ist. Und dann, vor etwa zwei Jahren war ich sehr betrübt, als ich mein Lädchen an seiner Stelle nicht mehr fand. Wieder einer, der es nicht geschafft hat, dachte ich, denn in Offenbach haben es die Läden nicht leicht. Umso erfreuter war ich dann, als ich Caffè Cuore später auf der Frankfurter Straße und sogar in größeren Räumen wieder fand. Inzwischen gab es auch ein paar Holztische, an denen man sich für ein Schwätzchen niederlassen konnte.


Letzte Woche gab es einen besonders schönen Anlass, einmal abends ins Caffè Cuore zu gehen. Das Wetter war alles andere als angenehm an dem Abend. Sturm und Regen hatten sogar Platten am Citytower beschädigt. Nahezu todesmutig also machte ich mich auf zu einer ganz besonderen Buchpräsentation - die sich in jeder Hinsicht gelohnt hat.

Die Autorin Ida Todisco stellte dort stilecht ihr liebenswertes Buch über ein Dutzend sehr besonderer Offenbacher: "Offenbach. Liebe auf den zweiten Blick" vor. Einer dieser besonderen Offenbacher ist Franco, der Betreiber des Caffè Cuore. Er hat nicht nur dieses kleine Ladencafé mit viel Liebe zum Detail eingerichtet, sondern spielt auch bei besonderen Gelegenheiten Gitarre zu selbst gesungenen italienischen Schlagern. Am Donnerstag wurde dieses Programm noch durch eine deutsche Sängerin mit schöner, dunkler Altstimme und zwei Kubaner an den Drums erweitert. Dazwischen Blitzlichtgewitter und Gläserklingen für Ida und ihr Buch, das sehr liebevoll gestaltet vom Cocon-Verlag ein sehr schönes Weihnachtsgeschenk ist. Ich jedenfalls habe gleich zwei Bücher geordert, eins für mich und eins für meine Mama, die solche Geschichten aus dem ganz alltäglichen Wahnsinn liebt. Und ich wüsste noch einige andere Menschen, in meinem Umfeld, denen das Büchlein gefallen würde. Ich habe an diesem Wochenende die Geschichte von Metzger Angelo und Frühlingsrollenproduzent Duc Tran mit großem Interesse gelesen. Danke Ida, für diese schönen Ein- und Augenblicke!

Und ins Cuore muss ich auch bald wieder - der Dichtungsring von meiner Bugatti...

Ein Dezember-Nachmittag im Märchen

Ein kleiner Zwischenstopp in der Mokkaria in Frankfurt-Bornheim. Gerade so fast auf meinem Weg zwischen Bergerstraße und Prüfling, wo ich noch einen Abendtermin mit einem möglichen Auftraggeber habe. Ich hatte schon von dieser kleinen Oase gehört, aber es noch nie dorthin geschafft. Neben dem aufgemotzten ehemaligen Straßenbahndepot in der Heidestraße, wirkt der Eingang eher klein und unscheinbar. Und doch, diese kleinen, kugeligen weißen Lämpchen, die nur ganz leicht an Aladdin's Wunderlampe denken lassen, ziehen mich magisch an.



Eingetreten, zögere ich ein wenig, unsicher, ob ich an den Kaffeehaustischlein entlang der Theke Platz nehmen soll oder weiter hinten im kleinen orientalischen Salon. Die marokkanischen Teetische mit den schön gearbeiteten  Messingplatten gewinnen gegen Marmor - und ich platziere mich in ein Eckchen gleich rechts neben der Theke, schwer einsehbar und gemütlich und bestelle einen grünen Tee mit Zitronengras im gläsernen Samowar. Es tut gut, sich in die weichen Polster zu schmiegen. Sie sind schön gemustert, Blumenornamente in Türkis und Bordeaux. An den Wänden typisch marokkanische Sternenornamentik, weiß auf hellem Grau.


Wie im Märchen, denke ich - und dabei gar nicht verstaubt. Die Musik einer Wüstenflöte lässt mich an diesen Film denken "Der englische Patient". Der kleine Raum hier mitten im kalten Bornheim wäre der perfekte Ort für eine solche Szenerie: Ein Liebespaar, das sich ein, zwei Stunden stibizt und der Welt da draußen, mit ihrer Geschäftigkeit und ihrem Streben für kurze Zeit verlorengeht. Natürlich wäre es ein nicht so ganz legales Liebespaar. Wahrscheinlich wären beide verheiratet und der Zufall hatte sie an einem Nachmittag in der übervollen S-Bahn zusammengespült. Eine plötzliche Berührung hatte sie Worte finden lassen und es hatte sich eine lebendige Unterhaltung entwickelt, die sie irgendwo fortsetzen wollten, ganz arglos noch. Sie hatten sich orientalischen Mokka bestellt, der hier auf heißem Sand zubereitet wird. Alles war plötzlich neu und schön und die beiden unterhielten sich über Reiseerlebnisse in fernen Ländern, über den Geschmack fremder Speisen. Ihre Hände fuhren ein wenig nervös die Blumenornamente auf den Polstern nach und verschlangen sich fast zwangsläufig ineinander. Und irgendwann sahen sie sich in dem Halbdunkel mit großen Augen an und fanden keine Worte mehr.


Ein schöner Anfang für eine Kurzgeschichte, denke ich, als mich Worte wie I-phone, App und D1-Netz aus dieser Vorstellung heraus sehr schnell wieder in die Wirklichkeit befördern. So würde es meinem Liebespaar wohl auch gehen, denke ich. Denn so ein fast vollkommener Augenblick kann einfach nicht ewig andauern. Sonst besäße er nicht diesen Zauber.

Ich zahle an der Theke und vor mir stehen drei Silbertabletts mit süßen orientalischen Leckereien, die nur so von Zuckersirup und Rosenwasser triefen. Vielleicht sollte ich mir ein paar aussuchen und doch diesen Augenblick noch andauern lassen? Jedenfalls werde ich wiederkommen!

Montag, 5. Dezember 2011

Geschmackserlebnisse in Little Italy

Der Morgen war nicht schön. Er war diesig und kalt, aber wenigstens regnete es nicht. Das genügte mir für meinen kleinen Ausflug. Ich hatte mich für eine ganze besondere Stadtführung in meiner eigenen Heimatstadt angemeldet. "Esskultour" nannte sie sich und sie wird von Loimi Brautmann, der an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert, organisiert.

Um zehn Uhr trafen wir uns im Salzgässchen und begannen unseren Spaziergang in unbekanntes Terrain. Denn obwohl ich mich nach all den Jahren gut auskenne, meide ich doch bestimmte Ecken oder Gässchen, weil sie mir uninteressant oder finster scheinen oder weil sie einfach nicht zu meinen ausgetretenen Pfaden gehören.

Die Route führte uns zunächst in die Kantine des Rathauses. Als Gourmet-Tempel nicht so interessant, aber eine Möglichkeit, um sich aus dem fünfzehnten Stock einen Überblick über die Stadtarchitektur zu machen. Ein wenig erschreckend, das kleine Chaos von oben. Danach ging es zu einer kleinen Moschee in der Glockengasse. Sie befindet sich versteckt in einem Höfchen und daneben gibt es ein kleines Restaurant - Treffpunkt der türkischen Gemeinde. Dort bekamen wir warme türkische Pizza und ein Glas Tee. Mein Frühstück für diesen Tag.

Nach einem Besuch in der gegenüberliegenden Bäckerei, wo wir frische Sesamkringel holten, ging es weiter. Ziel war ein kleiner indischer Laden in der Bieberer Straße, den ich zwar schon kannte, der aber wegen der köstlichen Samosas immer einen Besuch lohnt. Außerdem ist es so schön indisch dort. Es riecht nach Räucherstäbchen und Curry und ich mag die Betreiberin, eine ältere Dame mit weiß meliertem Haar und runder Brille. Sie lächelt und man versteht sich ohne Worte.

Die nächste Station lag in einer unscheinbaren Hofeinfahrt. Es handelte sich um die Mozzarella-Käserei L'Abbate, die sich dort in einem weißen Hinterhaus verbirgt. Einziger Hinweis: die italienische Flagge. Und hier, so ungefähr zwischen Friedrich- und Karlstraße liegt ein sehr winziges Little Italy. Zugegeben kann man Offenbach nicht mit New York vergleichen. Aber, diese paar Sträßchen haben etwas vom abgewetzten Charme der großen Schwester und auch etwas von ihrer Verruchtheit. Zwischen zwielichtigen Spielotheken und Kitschläden gibt es ein paar sehr gute kleine Lebensmittelgeschäfte, die den Weg lohnen. Also, zurück in die Käserei. Dort bekamen wir im lauwarmen Duft von Bio-Odenwaldmilch Mozarella-Spießchen und frisch gekochten Ricotta von Andrea L'Abbate gereicht. 

Ein (un-)heimliches Geschmackserlebnis.

Eine Ecke weiter waltet Angelo, der Meister der Wurstmaschine. Keiner versteht es, den Parmaschinken und die Mortadella so hauchdünn zu schneiden wie er - so glaube ich jedenfalls. Die italienische Salsicce werden ebenfalls direkt vor Ort gemacht. Und vor Weihnachten hängt der Himmel im Lädchen voller Panettone.

Angelo

Am liebsten hätte ich noch einen Abstecher in die kleine Pasticceria gegenüber gemacht, weil es dort sicher die kleinen Cannoli gefüllt mit Riccotta Creme gibt, aber das stand wohl nicht auf dem Programm. So habe ich jedoch, einen triftigen Grund wiederzukommen. Denn eines ist sicher, ich werde in Zukunft noch ein paar andere Wege austreten in Offenbach - und Little Italy wird auf jeden Fall dazugehören.

Pasticceria

Die kleine Route endete schließlich stilvoll mit einem Espresso bei dem kleinen roten Kaffeewägelchen auf dem Wochenmarkt und ich kam mir ein bisschen so vor als kehrte ich aus einer unbekannten Stadt zurück, die ein heimliches Dasein führt inmitten des Bekannten.

Bahnhof, Balkangrill und Barbiepuppentorten

Und da wandere ich wieder. Im Buchrainweg geht es los, die Darmstädter runter Richtung Bahnhof. Spätestens in der Marienstraße verlasse ich das Idyll der westlichen Stadt und nähere mich dem Bahndamm, der die Stadt teilt. Eine graue Mauer führt daran entlang, durchbrochen von feuchtfleckigen Tunneln ins Zentrum. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Glitzern silbrig, grün und rot. Da hat jemand versucht, etwas Schönheit zu verbreiten. Ich wechsle die Straßenseite, um das genauer zu sehen. Bilder aus Fliesen à la Gaudí. Wirklich liebevoll gemacht. Besonders die kleinen blauen Eulen mit den gelben Kaffeetassenaugen. Leider muss ich Hundehaufen ausweichen, Pappkartons und Flaschen. Was die Leute so liegenlassen an Orten, die nicht eben schön sind. 

Es ist nicht leicht, diese Stadt zu lieben. Es ist ein bisschen so, wie mit einer kleinen Schwester, die mitten in der Pubertät steckt und nichts an ihr will recht zusammen¬passen. Die Nase zu klein, der Mund zu groß, die Beine zu lang. Und trotzdem weiß man, auch dieses Mädchen hat Sehnsüchte – auch dieses Mädchen will vor allem schön sein. 

Ich durchquere die Unter¬führung und wende mich Richtung Bahnhof, vorbei an diesem längst vergessenen kleinen Biergarten. Im Zaun fehlen Latten und obendrauf gab es mal eine Verzierung aus Holz, von der noch ein einziges Teil zeugt. Hinter dem Biergarten befindet sich ein schöner, hoher Raum. Er wird wieder genutzt, manchmal jedenfalls – als Ausstellungsraum der Hochschule für Gestaltung. 

Früher war dort die Bahnhofsgaststätte. Dort habe ich Russische Eier gegessen, mit Mayonnaise und deutschem Kaviar - salzige schwarze Kügelchen, die lustig knackten, wenn man darauf biss. Ansonsten waren diese Essen immer ein bisschen traurig, weil wir dann meine Großeltern zum Zug brachten. Russische Eier – das hieß Abschied. 

Der Bahnhof selbst sieht heute etwas verlebt aus. Man merkt ihm sein Alter an und die Nichtbeachtung, seit der ICE vorbeirauscht. Dabei fällt der Bau mit seiner treppenartigen Fassade sofort ins Auge. Art Déco Reliefs um die Eingangstüren und in der Halle schöne grüne Fliesen, unterbrochen nur von weißen Ladenfronten. Läden, die nun leer stehen. Ich weiß, dass oben auf dem einen Bahnsteig ein kleiner schöner Brunnen mit einem Fabelmotiv steht. Der Rabe und der Fuchs. Der Rabe hat ein Stück Käse im Schnabel und der Fuchs will es haben. Er bittet den Raben, ihm doch etwas vorzusingen, mit seiner schönen Stimme. Man ahnt, was passiert. Mein Opa musste mir die Geschichte hundertmal erzählen - ich liebte es, wenn er den singenden Raben nachmachte - bis der Zug kam.

Bahnhofsbrunnen

Dann die Kaiserstraße runter. Ehemals prachtvolle, große Häuser, in denen sich früher Läden oder Restaurants befanden. Eiscafé Dolomiti. Bestes Bananeneis der Stadt, heute ein „Raucherlokal“. Aber, in den Hinterhöfen tut sich was. Agenturen sind hier eingezogen, ein Kunstverein und ein Modeatelier. Menschen, die auch versuchen, diese Stadt zu lieben. 

Rechts in die Geleitsstraße hinein. An der Ecke war früher das San Remo, ein etwas zwielichtiges italienisches Café. Gut, dass es weg ist. Aber gegenüber gab es auch eine nette Studentenkneipe, das Harlekin, in einem sehr niedlichen alten Häuschen, weiß gestrichene Klinker und olivgrüne Jugendstildamen, die den Erker auf ihrem Kopf tragen. Das Harlekin ist weg – stattdessen weist ein großes knallblaues Schild auf einen Balkangrill hin. Die Jugendstildamen geraten daneben in Vergessenheit. 

Balkangrill

Ein Stückchen weiter kommt eine türkische Konditorei mit den schrillsten Tortenmotiven, die ich je gesehen habe. Heute entzückt mich die Barbiepuppentorte. Barbie ruht in einem grünweißen Bett aus Marzipanmargeritten. Spätestens dieser Anblick versöhnt mich mit meiner Stadt – und ich bin dankbar für dieses Bunte neben dem Alltäglichen, dieses Andere neben dem Normalen. Wenn ich hier an einem sonnigen Tag runterkomme, kann ich mir einbilden, ich ginge gerade in Palermo spazieren oder in Istanbul. Es riecht sogar so: Ein bisschen nach Döner, ein bisschen nach Zuckerwatte, ein bisschen nach Müll.

Barbiepuppentorten

Dann überquere ich die Waldstraße, kreuze Koffer Roth und Rosenapotheke und höre schon das Leben. Der Wilhelmsplatz mit seinem Markt. Hier treffen alle auf alle, Türken auf Griechen, Italiener auf Vietnamesen, Hessen auf Franken und Offenbacher auf Frankfurter. 

Das war früher nicht so. Als ich die nahegelegene Wilhelmschule besuchte, liebte ich auch schon die Markttage. Mit meinen Freundinnen kaufte ich eine Dampfnudel beim Bäcker und einen giftgrünen Apfel beim Obststand. Es gab nämlich einen stillschweigenden Wettbewerb darum, wer den sauersten Apfel essen konnte. Und dann war da noch die Attraktion des Fischwagens, wo lebendige Aale erschlagen wurden, was wir gleichzeitig fasziniert und angewidert beobachteten. 

Aber alles in allem war es viel weniger bunt. Ich malte damals in der Schule ein Bild von diesem Markt – es ist eine Tuschezeichnung in Schwarzweiß.

Vergessene Stadtvillen, verwaiste Tankstellen und eine entjungferte Eisdiele

Ich lasse die Zwiebelkuppel und das schlanke, weiße Minarett hinter mir. Nach einem Interviewtermin am Ortseingang von Bieber, beschließe ich von dort aus in die Stadt zurückzuwandern. Immer die Bieberer lang. An der alten Matofabrik geht es los. 

Ich kenne diesen Weg. Vor vielen Jahren bin ich ihn oft gelaufen. Wenn ich Mathe gelernt hatte, mit meiner Freundin Bille, die mit ihren Eltern in einer Alten Schuhfabrik an der Bieberer wohnte. Wir gingen damals aufs Abendgymnasium in der Geleitsstraße und machten uns immer zwischen vier und fünf auf den Weg in die Stadt. Die Nachmittage bei Bille waren meine späte Hippiezeit. Wir saßen auf der Terrasse der Fabrik, tranken Tee aus Tontassen und Bille drehte die elegantesten Joints, die ich im Leben geraucht habe, und bevor ich sie kannte, hatte ich nie einen geraucht. 

Ich überquere die große Kreuzung an der Rhönstraße stadteinwärts. An dieser Stelle ist die Bieberer fast noch Autobahn. Viel zu breit für die schönen, villenartige Stadthäuser zu beiden Seiten. Schon damals, als ich mit Bille hier lang lief, und wir aus heutiger Sicht beneidenswert jung waren, fielen uns diese schönen Häuser auf. Ich komme mir wie in einem Zeitraffer vor, an diesem sonnigen Nachmittag. Was ist anders? Nur ich? Oder sogar nicht einmal ich?

Es tut mir immer noch weh, wie hier die Autos vorbeirauschen und die Stadtvillen immer schwärzer und schwärzer machen. Ihre Schönheit konnte sie nicht schützen, vor der modernen Stadtplanung. Eines von ihnen, nah der Landgrafenstraße, scheint etwas vernachlässigt, vielleicht verlassen und deshalb von einem besonderen Zauber umgeben – als wäre es gar nicht von dieser Welt.

Haus-des-Wachtmeisters-Slama

Darauf weißt schon der morsche, gänzlich bemooste Bretterzaun entlang eines riesigen Gartens hin. Immer mal wieder fehlt eine Latte und ich kann einen Blick erhaschen auf alte Obstbäume. Das Haus ist aus rostroten Klinkersteinen gemauert und zum Garten hin erhebt sich ein verspielter Spitzgiebel mit Schieferdach und großem Balkon darunter. Hier könnte man wunderschön frühstücken – mit Bille zum Beispiel, aber die ist längst weggezogen. 

Mit seinen Metallspitzen an Dach und Giebeln sieht es aus wie ein Landhaus irgendwo im Osten. Es ist so ein Haus, wie aus einem Roman von Joseph Roth, den wir damals in Deutsch lasen. Das Haus des Wachtmeisters Slama in Mährisch Weißkirchen zum Beispiel, dessen schöne Frau den jungen Protagonisten des Radetzkymarschs ins Wanken brachte. Dort hat es natürlich nicht an einer großen Straße gestanden, sondern eher am Ende eines vergessenen Ortes. Der Eingang des Hauses sieht etwas neuer aus. Die Tür scheint irgendwann erneuert, Namensschilder sind lesbar. Der Name Slama ist nicht darunter. Gerade als ich ein Foto mache, ist ein Geräusch zu hören. Ich beschleunige meinen Schritt. 

Ein Stück weiter auf der linken Seite leuchtet blütenweiß eine verwaiste Tankstelle, in der typischen Architektur der sechziger Jahre, mit einem schönen halbrunden Dach. Vielleicht gehört sie niemandem. Jedenfalls gibt es kein Zeichen einer menschlichen Besiedelung. Ich wundere mich, dass sie trotzdem stehengeblieben ist, wie das Wahrzeichen einer verblühten Ära in nahezu Hopperscher Manier. In diesem Sinne könnte ich diese Tankstelle eine Weile beleben, sie zum Sinnbild menschlicher Verlorenheit in einer anonymen Großstadtkulisse machen. 

Tankstelle

Doch vor mir, Richtung Bahnüberführung, lockt schon ein anderes Bild. Im Blau des Herbsttages überwältigt es mich fast – das könnte Berlin sein oder gar New York. Beschreibungen des Viertels um die Brooklyn Bridge von Henry Miller kommen mir in den Sinn beim Anblick der Eisenbrücke mit ihren winkligen Streben. Dahinter buchstäblich aufgetürmt, eine scharfes Übereinander von Schön und Hässlich: Schwarze Stromleitungen im Knäuel, die üppigen ockerfarbenen Rundungen der Marienkirche, stahlblau und unnahbar glitzernd, der Citytower. So etwas zwingt zum Hinsehen. Zum Hinsehen und zu einem Gedanken darüber, welche Zeiten diese Stadt durchlebt hat. 

Unter der Brücke ein Stück Niemandsland. Keine Menschenseele, nur ein kleiner grauer Bauwagen und ein rotblaues Verkehrsschild. Eine Kulisse für ein Leben, das in Hoffnungslosigkeit beginnt. In einer Hoffnungslosigkeit, die keine Erwartungen weckt und einen Menschen deshalb mit Dankbarkeit ausstattet und mit einem Optimismus, der für ein ganzes Leben reicht. Vielleicht sind deshalb die Menschen hier von einer gewissen Unbekümmertheit – und Stolz.

Brooklyn-Bridge

So wie der Wirt des Tri Am, eines kleinen Lokals gleich rechter Hand. Ein Vietnamese und Offenbacher Original zugleich, mit langem, dünnen Bart und strengem Blick. Er schreibt seine Speisekarten selbst. Kleine kalligraphische Kunstwerke. Seine Empfehlungen dulden kein Widerwort und sind immer gut. Mit dem Tri Am wird die Bieberer zu einer kleinen kulinarischen Abenteuermeile, die Mut erfordert, aber auch die Neugier weckt. Schräg gegenüber in der Bismarckstraße ist ein neues italienisches Lokal eingezogen: Il Pistacchio. Hier serviert man selbstgemachte Pasta. Etwas weiter kommt ein weißes Schlösschen, das Monte Christo, heute ein russisches Lokal. Früher hieß es Lucullus und war ein gehobenes Restaurant. Hierhin wurde Bille von unserem Bibliothekar ausgeführt – und ich ging als Anstandsdame mit. 

Weiter stadteinwärts über den Mathildenplatz mit der Marienkirche, die als einzige in der Stadt wie eine Kirche aussieht. Links ein indisches Lädchen mit wahnsinnig guten Mangos. Die Präsentation der Waren ist sehr indisch, ein kleines wohlgeordnetes Chaos: Ein Turm Kichererbsendosen halten die Tür auf. Rechts im Schaufenster eine Gemüseregal mit strubbeligen Bittergurken und Okraschoten. Links die Theke mit rosaroten und giftgrünen Süßigkeiten. Im Hinterzimmer säckeweise Reis. Es duftet nach Räucherstäbchen, Mangos und Curry. 

Schräg gegenüber befindet sich ein nahezu heiliger Ort: Das ehemalige Cortina Eiscafé – heute San Carlo und eine eher zwielichtige italienische Spelunke. Mit seinem obszön fetten Schriftzug des Namens und den abgeklebten Fenstern, scheint der Ort auf eine brutale Art seiner einstigen Jungfräulichkeit beraubt. Das Cortina war ein Ort der Sehnsucht. Es bedeutete Sommer und Schule schwänzen oder Hitzefrei. Hier machte ich mit Bille vor dem Beginn der Abendschule Station. Und oft stieß Yvonne zu uns. Wir bestellten Milchmix Himbeer oder Nuss oder Orange. Eisbecher konnten wir uns nicht leisten. An einem besonders heißen Tag saßen wir vor der schönen Fototapete mit den drei Zinnen, ganz hinten im Café, wo sich die Tür zum Klo befand. Bille hatte am Vorabend ein Briefchen zugesteckt bekommen, von Klaus. Und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Denn da half keine Logik, wie in Mathe. Yvonne und ich schoben uns die Antwort hin und her, schrieben abwechselnd einen Satz, zwischen Nähe und Schüchternheit, Raffinesse und Naivität. Gerade war ich dran, da kam unsere Lieblingskellnerin mit ihrem kleinen ovalen Tablett und drei hohen Gläsern. Sie versuchte etwas von dem Geschriebenen zu erhaschen und ich versuchte es mit einer schnellen Handbewegung zu verbergen. Das kleine ovale Tablett kam ins Wanken, die Gläser ins Schleudern und in einem weißen Schwall ergossen sich die Milchmixe über den Tisch, unsere Briefchen und flossen genau in meine Richtung, an der Kante des Tisches hinab in meine Schultasche aus hellem Leinenstoff. Wir sprangen auf. Die Bedienung setzte das Tablett ab, lief nach Handtüchern und ich stülpte in Windeseile den Inhalt meiner Schultasche auf einen der Nachbartische, um wenigstens die Bücher zu retten. Wir tupften und wischten bis der Schaden einigermaßen behoben war. Die Lieblingsbedienung brachte uns weitere Milchmixe – aber den Geruch von saurer Milch mit einem Anflug Himbeere bekam ich aus meiner Schultasche nie wieder ganz heraus.

Jahre später endet mein Stadtspaziergang im Tafelspitz, besser gesagt draußen auf der schönen Terrasse am Wilhelmsplatz. Die Sonne scheint auch heute und der Platz mit seinen hübschen Häusern und den vielen Cafés prangt und blitzt. Ich bestelle einen Topfenstrudel mit Zwetschgen und fühle mich nicht mehr wie unter der Brooklyn Bridge, sondern fasst ein bisschen wie in einem Stadtgarten im Ersten Wiener Bezirk. Und das ist vielleicht der Grund, warum ich nie weggegangen bin: In dieser Stadt gibt es ein Stückchen von allem.